Das Bild von Nietzsche

oder der Wanderer als Kunsterzieher?

von Jürgen Plechinger

Welchem Dichter und Denker auch immer ein großer Geist bescheinigt wird — wobei nicht wenige dieses selbst übernahmen — ; Nietzsche dachte als einziger deutscher Philosoph als möglichst freier Geist — seiner Zeit wohlgemerkt, und unter Berücksichtigung des Wissens, das ihm zur Verfügung stand.
Zur genaueren Auslotung der Geistesfreiheit hilft der zweifellos freieste Geist des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts, Arthur C. Clarke, weiter:
„Ein vollkommen offener Verstand müsste leer sein, und Freiheit von allen Vorurteilen und vorgefassten Meinungen ist ein unerreichbares Ideal.“

Nietzsche ist mit Sicherheit der meist unterschätzte deutsche Philosoph der Neuzeit, was die meisten der bekannten anderen, nicht automatisch, aber in diesem Fall zwingend, zu Überschätzten macht. Für empörte Leser könnte diese sicherlich als Anmaßung wahrgenommene Behauptung zur Steigerung der Entrüstung sogar noch über Länder-, Kultur- und Epochengrenzen hinaus ausgeweitet werden. Die Nitzsche-Rezeption wird mit Sicherheit eine Renaissance erfahren. Doch davon sicher zu späterer, geeigneterer Zeit.

Ein Verständnis insbesondere der nach 1876 verfassten Schriften ist in einer bisher nicht gekannten Tiefe erst heute möglich. Was hier momentan noch unklar bleiben wird, hat mit neuen Erkenntnissen zu tun, die erst die Voraussetzungen schaffen, um Nietzsches Werk angemessen würdigen zu können.

Ohne hier näher auf diese — obwohl im Zeitgeschehen singulär und deshalb auch einmalig bedeutsam noch in der Breite weitgehend unbekannten Bedingungen einzugehen, werden diese ganz sicher noch den Blogautor und willkommene Besucher in hoffentlich zahlreichen zukünftigen Beiträgen beschäftigen.
Eine überaus lohnenswerte Auseinandersetzung, die ein Genuss für Leser mit Freude an Erkenntnis war und ist, wird also zukünftig von einer neuen Warte aus betrachtet werden können.
Sieht sich der Leser auch bildender Künstler, dann steht eine weitere Belohnung dieser Art in Aussicht, wenn man sich dazu entscheidet, sich einer Aufgabe zu widmen, deren Fortgang eine interessante ästhetische Forschungsarbeit zu werden verspricht und eine Menge an interessanten Vorarbeiten zutage fördern dürfte: Ein Bildnis von Friedrich Wilhelm Nietzsche (die Vermeidung des Begriffs „Portrait“ liegt in der persönlichen Ansicht begründet, dass er für die Bilder von lebenden Personen, denen der Künstler leibhaftig begegnen ist, Anwendung finden sollte.)

Ob Nietsche selbst diesem Vorhaben in irgendeiner Weise wohlwollend gegenübergestanden hätte, ist eine interessante Frage, gestand der eifrige Briefschreiber doch in einem Schreiben an eine Gönnerin, „selten […] ein Vergnügen an einer bildnerischen Darstellung“ gehabt zu haben.

Ob und wie sich der Ausdruck dessen, was Nietzsche aus seinem Inneren offenbart in seinem Äußeren einen Ausdruck finden kann, also in welcher Weise sich das vom Zeichner bzw. Maler wahrgenommene und interpretierte Gedankengut im Bild niederschlägt, verspricht spannende Ergebnisse.

Schon bei einer oberflächlichen Recherche fällt auf, dass die Zahl der Bilder von Nietzsche erstaunlicherweise recht überschaubar ist. Sicher war die Fotografie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch kein allgegenwärtiges Medium und Nietzsche erst am Ende seiner Lebenszeit in weiteren Kreisen beachtet worden. Die Erwartung, was den Umfang von zu Recherchezwecken aufzufindendem Vorlagenmaterial anbelangt, war jedenfalls eine gänzlich andere.

Die Anzahl an fotografischen Abbildungen jedenfalls ist sehr übersichtlich. Dasselbe gilt für Zeichnungen und Gemälde, die zum Großteil auf den verfügbaren Fotografien beruhen. Die eigenständigen Arbeiten von Hans Olde, der den seit zehn Jahren Kranken kurz vor seinem Tod besuchte, seien hier herausgestellt. Besonders erwähnenswert ist Oldes ausdrucksstarke Radierung, die den Philosophen im Halbprofil nach links zeigt.

Interessanterweise bieten die Totenmasken und deren Bearbeitungen inspirierende Details, die man in den meisten Fotografien vergeblich sucht, weil sie entweder einen jungen Nietzsche zeigen, der seltsam statisch, entrückt, weichgezeichnet glatt wirkt, was vielleicht auch durch den damaligen technischen Stand der Fotografie zu erklären sein könnte. Wenige dienten als Vorlage für Oldes Stich und vermögen diesem nichts hinzuzufügen.
Gerade der Bronzeabguss von der vermutlich ersten, als misslungen geltenden Totenmaske scheint in seiner partiellen Schroffheit und anatomisch-formlichen Unklarheiten Lebensspuren zur Interpretation anzubieten. Damit soll freilich keineswegs irgendeine Beschränkung auf die gegenständliche Wiedergabe einer Vorlage gemeint sein.

Als Ausgangspunkt der zeichnerischen Arbeit bietet sich die willkommene Gelegenheit der Auffrischung und Vertiefung von den zeichnerischen Grundlagen den menschlichen Kopf und seine Anatomie betreffend.
Die hoffentlich interessanten Stationen auf dem unvorhersehbaren Weg zum Endergebnis werden sich nach und nach auch auf auf dieser Webseite zeigen, wobei die zeitlichen Rahmenbedingen gleichmaßen offen wie begrenzt sind. Zur Erläuterung dieser nur scheinbaren Widersprüchlichkeit, kann man Nietzsche selbst zu Wort kommen lassen. Im Sommer 1877 schreibt er in einem Brief an den „lieben lieben“ Freund Rohde: „Jemand, der täglich nur wenig Zeit für seine Hauptsachen und fast alle Zeit und Kraft für Pflichten auszugeben hat, die andre so gut besorgen können wie er — ein solcher ist nicht harmonisch, mit sich im Zwiespalt — er wird endlich krank.“

Nun, dem Krankwerden dürfte erfolgreich entgegengearbeitet sein, indem man um seine eigene Hauptsache weiß, und trotzdem bis auf weiteres die lästigen Pflichten, namentlich die Notwendigkeiten des Erwerbs, nicht zu sehr außer acht lässt. Hier also liegt der Zwiespalt: Das eine will und muss man nicht, das andere muss und will man nicht. Oder anders ausgedrückt: Es besteht kein zeitlicher Drang, wohl aber ein leidenschaftlicher.

Zudem beanspruchen weiterere parallel fortschreitende Themen ihren Anteil an Passion und Zeit, darunter Gestirne und Narren, der deutsche Hirschdackel und fette Würmer, die allesamt nicht nur allegorisch oder symbolisch, sondern auch als handfeste Entsprechung von Typen zu verstehen sind, in denen auch nicht selten die Eigenschaften der Aufgezählten gemeinsam anzutreffen sind.

Das Schlusswort, welches sehr unter dem Verdacht steht, zu einem nicht unerheblichen Teil mit den Beweggründen des Blogautors übereinzustimmen, soll dem Darzustellenden gehören, der in einem Brief an den zeitweise für Nietzsche unentbehrlichen Heinrich Köselitz* über seine Motivation zum damals gerade erschienenen Werk „Menschliches, Allzumenschliches“ erklärt:

„Das ist eben das Beste, was ich erhoffte — die Erregung der Produktivität Anderer und die Vermehrung der Unabhängigkeit in der Welt“ (wie J. Burckhardt sagte).“

MfwG

J. P.

Die Galerie wurde nicht gefunden!


*Einen Köselitz müsste man haben!

Auf Sicht

Jürgen Plechinger Leitbild, Lange Sicht

von Jürgen Plechinger

Die Zahl der kommenden Generationen, die Kraft ihrer Kreativität das zukünftige Zusammenleben gestalten werden, bis sich die Prophezeiung von Sir Arthur Charles Clarke im vorhergehenden Beitrag erfüllt, ist nicht annähernd zu schätzen. Sicher ist jedoch, dass es sich um eine – im Grunde genommen die einzige – erstrebenswerte Zukunft handelt, unabhängig davon, wie weit sie noch entfernt sein mag. Wie dem auch sei, hat dieses zukünftige Ideal mit Sicherheit einen Einfluss auf das eigene Schaffen.

Der Blick eines kreativen Menschen kann und sollte sich aber natürlich nicht ausschließlich auf die Zukunft richten, sondern hat sich vornehmlich innerhalb der Grenzen des Mach- und Schaffbaren, dem man in einem Menschenleben gerecht werden kann, zu bewegen, was weniger einschränkend ist, als es sich zunächst anhören mag.

Die gegenwärtige Epoche – ob diese Zeiten dieser Bezeichnung gerecht werden, wird wie immer erst entschieden, wenn sie bereits einer Vergangenheit angehören – ist zweifellos ganz außergewöhnlich.
Sie wird in absehbarer Zeit ihr Ende finden; das ist ganz sicher keine Frage von Generationen. Der Autor dieser Zeilen könnte sogar, ohne auch nur im geringsten leichtsinnig zu sein, eine präzisere Einschätzung vornehmen, doch das soll hier nicht das Thema sein.

Aus unaufgeklärter Sicht ist Angst eine plausible Reaktion und wird auch bei der überwiegenden Mehrheit anzutreffen und umso tiefgreifender sein, je schneller und umfassender die Umwälzung stattfindet.
Doch ‒ und diese Einsicht schreibe man vorerst glücklichen Umständen zu ‒ bietet sich andererseits eine einmalige Quelle der Inspiration, die ungenutzt zu lassen schiere Dummheit wäre, wird sie doch, wie die Angst, in ihrer Intensität einmalig sein.

In der Gewissheit, dass die gegenwärtigen Zeitläufte einen zugegebenermaßen frühen, aber notwendigen Schritt zur Verwirklichung von Clarkes schon erwähnter Vision darstellen, empfiehlt sich bei aller nachvollziehbaren Verwirrung eine jedem gesunden Menschen zur Verfügung stehende Begabung nicht zu vergessen: Den Humor.

Diese neben der Intelligenz und dem Sinn für Ästhetik ebenso wunderbare Eigenschaft des Menschen ist wie die genannten unverzichtbarer Bestandteil kreativer Prozesse und ich bin sicher, dass die Chance ergriffen wird, diese Eigenschaften weiterzuentwickeln.
In dieser von berechtigter Hoffnung gespeisten Erwartung soll abschließend folgende Erkenntnis eines weiteren brillianten Kopfes eine Art Überbrückungshilfe sein, bis sich Clarkes prophetische Worte bewahrheiten:

»Kreativität ist Intelligenz, die Spaß hat.«
Albert Einstein (1879-1955)

Auf lange Sicht

Jürgen Plechinger Leitbild, Lange Sicht

„Die Schaffung von Reichtum ist durchaus nichts Verachtenswertes, aber auf lange Sicht gibt es für den Menschen nur zwei lohnende Beschäftigungen: die Suche nach Wissen und die Schaffung von Schönheit.
Das steht außer Diskussion – streiten kann man sich höchstens darüber, was von beidem wichtiger ist.“

Arthur C. Clarke (1917-2008)